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Training & Ernährung

Jens Voigt im Gespräch: Leiden wie ein Profi

Wer leiden kann, gewinnt! Jens Voigt verrät, wie du dir "Shut Up Legs!" zu eigen machen kannst!

Eddy Merckx sagte einst, dass derjenige Fahrer gewinnt, der am meisten leiden kann. Und wenn einer der größten Radfahrer in der Geschichte des Radsports etwas sagt, lohnt es sich, davon Notiz zu nehmen.

Kein anderer verkörpert das Leiden auf dem Fahrrad mehr als ein Mann, der sich diese Worte des „Kannibalen“ regelrecht zu Herzen genommen hat. Nicht nur das: Er fand sein eigenes Motto, welches ihm half, sich weit über seine Schmerzensgrenze zu treiben. Sein berühmtes “Shut up Legs” ist ein viel zitiertes und geflügeltes Wort unter Radfahrern geworden.

Wie kein Zweiter steht Jens Voigt für Schmerzresistenz, Willenskraft und Durchhaltevermögen
Wie kein Zweiter steht Jens Voigt für Schmerzresistenz, Willenskraft und Durchhaltevermögen

Jens Voigt blickt auf eine lange Karriere im Radsport zurück. Eine Karriere, die erst kurz vor seinem 43. Geburtstag zum Ende kam, als er in den Ruhestand trat und vom professionellen Radsport Abschied nahm. Sein Fahrstil ist charakterisiert von langen Attacken und gewagten Angriffen auf das Peloton.

Aber bevor er sich als Fahrer aus dem Profisport zurückzog, zeigte uns „Jensie“ noch einmal womit er sich, wie kein anderer, im Radsport einen Namen gemacht hat: Zum Abschluß seiner langen und profilierten Karriere holte er sich den UCI-Stundenweltrekord und demonstrierte ein letztes mal seine Bereitschaft, sich in seinem Streben nach sportlichen Erfolgen bis auf das Äußerste zu quälen. Ein gebührender Abschluss für einen Fahrer, der sich das Leiden zu eigen gemacht hat.

Wir wollten wissen, worauf es ankommmt, um wie ein Profi auf dem Rad leiden zu können und ergriffen die Gelegenheit, uns mit dem Meister des Leidens höchstpersönlich zu unterhalten. Der Herr der Schmerzen gab uns einen tiefen Einblick in seine Welt!

Jens Voigt prägte den Begiff "shut up legs" und seine Schmerzen sah man ihm in seinen Rennen förmlich an. Foto: Sirotti
Jens Voigt prägte den Begiff „shut up legs“ und seine Schmerzen sah man ihm in seinen Rennen förmlich an. Foto: Sirotti

 

Der Kopf fährt mit!

Mark Cavendish hat sich als Sprinter, Froome als Bergziege und Sir Bradley Wiggins als Zeitfahrer profiliert. Aber nur die wenigsten Radfahrer haben eine besondere Begabung, die es ihnen ermöglicht, sich zu spezialisieren, um eine Nische im Radsport für sich zu entdecken und zu dominieren. Der Rest, ergo die Mehrheit der Radsportler, die ihr Ziel erreichen will, muss schlicht und einfach eine Sache können: Leiden.

Es war diese Begabung, sich bis über seine eigenen Grenzen hinaus quälen zu können, die Jens Voigt auszeichnete und ihn vom Rest des Pelotons hervorhob. Seine Bereitschaft, jenseits von Gut und Böse zu fahren, bescherte ihm nicht nur seine Erfolge. Er erreichte einen großen Bekanntheitsgrad, machte sich einen Namen, erntete Bewunderung, Respekt und eine große Fangemeinde.

Große Bewunderung erfuhr Jens Voigt für seine Bereitschaft, alles aus sich heraus zu holen
Große Bewunderung erfuhr Jens Voigt für seine Bereitschaft, alles aus sich heraus zu holen

Diese Bereitschaft wurde außerdem fortan seine Nische. „Damit ich eine Etappe gewinne, musste ich meine eigene Strategie entwickeln. Ich musste anders fahren als die anderen”, erklärt Jens Voigt. „Ich musste alle meine Mitstreiter regelrecht durch den Fleischwolf drehen.”

Wie schafft man das? Vieles, was sich im Rennen abspielt, beginnt im Kopf. Ein Rennen ist vor allem auch eine starke psychische Herausforderung. Für Jens Voigt bedeutete das, sich in seinem Kopf in ein regelrechtes Monster zu verwandeln.

„Mir hat es immer geholfen, wenn ich mich psychisch aufheizte und richtig wütend war”, gibt er zu. „Das funktioniert nicht unbedingt für jeden, aber ich konnte so immer viel Energie produzieren.“

„Irgendetwas oder irgendjemanden musst du in dem Moment des Rennens verabscheuen“

„Das spielt sich vor allem im Kopf ab. Du musst es in dir finden, die Person, der du hinterherjagst, in dem Moment richtig zu hassen. Das gleiche gilt den Leuten, die dich verfolgen, oder der Zeit, die es zu schlagen gilt. Irgendetwas oder irgendjemanden musst du in dem Moment des Rennens verabscheuen.“

„Erinnere dich daran, wie es sich anfühlte, als du das letzte Mal in einem Rennen geschlagen wurdest. Das willst du nicht nocheinmal zulassen. Dieser Wille treibt dich an.“

Jens Voigt half es, während eines Wettbewerbs von Wut erfüllt zu sein. Sei es auf den Vordermann, die Verfolger oder einfach nur die Zeit. Foto: Sirotti
Jens Voigt half es, während eines Wettbewerbs von Wut erfüllt zu sein. Sei es auf den Vordermann, die Verfolger oder einfach nur die Zeit. Foto: Sirotti

Es war aber nicht nur die Wut im Bauch, die Jensie bei seinen Attacken zu Höchstleistungen antrieb: Ein unerschüttlicher Glaube an sich selbst und die eigenen Fähigkeiten spielt außerdem eine wichtige Rolle.

„Wenn du dich in einem Rennen ganz vorne wiederfindest, ist es wichtig, dir selbst immer wieder Mut zuzusprechen, dich zu motivieren und dabei immer positiv zu bleiben. Das sind Selbstgespräche, die dich selbst bestätigen wie ‘Ok, hier werde ich jetzt bleiben. Das werde ich schaffen. Ich werde alle schlagen. Ich werde das schaffen‘”, erklärt Voigt.

„Wenn du jagst und nicht der Gejagte bist, musst du eine andere Taktik finden – dann geht es darum, dich hundertprozentig davon zu überzeugen, dass du sie einholen kannst.”

Höre auf Eddy

Eddy Merckx hatte seinen Spitznamen „Der Kannibale” nicht ohne Grund erhalten – und kein anderer als Eddy bestärkte Jens Voigt in seinem Streben, sich das Leiden auf dem Rad zu eigen zu machen.

„Es geht nicht nur darum, dass derjenige, der am meisten leiden kann, auch gewinnen wird. Es ist gleichzeitig die Gewissheit, dass, wenn du durch die Hölle fährst, deine Mitstreiter um dich herum genauso leiden wie du.“

„Wenn du leidest wie ein Hund, ist das der Zeitpunkt, an dem du einen Vorteil rausfahren kannst." Foto: Sirotti
„Wenn du leidest wie ein Hund, ist das der Zeitpunkt, an dem du einen Vorteil rausfahren kannst.“ Foto: Sirotti

„Wenn es dir leicht fällt, fällt es auch allen anderen leicht, die mit oder hinter dir fahren”, folgert Voigt. „Wenn du leidest wie ein Hund, ist das der Zeitpunkt, an dem du einen Vorteil rausfahren kannst.“

„Meine ideale Situation in einem Rennen kam, sobald das Rennen unübersichtlich und schmerzhaft wurde“

„Als ich die Zitate [von Eddy Merckx] das erste Mal las, da war ich noch ganz jung. Es hat in meinem Kopf regelrecht ‘klick’ gemacht. Irgendetwas an dem, was er sagte, hallte in mir wider. Ich nahm mir seine Worte  zu Herzen und von diesem Tag an fuhr ich ganz in im Sinne von Eddy. Es dauerte nicht lange und ich erntete meine ersten Erfolge, was mir bestätigte, eine erfolgreiche Formel für mich entdeckt zu haben. Daraufhin wurden diese Worte für mich ein Mantra. Eines, das ich immer wieder wiederholte.”

„Meine ideale Situation in einem Rennen kam, sobald das Rennen unübersichtlich und schmerzhaft wurde. Versteht mich nicht falsch: Ich wäre auch viel lieber ein Sprinter geworden – dann könnte ich den ganzen Tag im Peloton mitrollen, anschließend zwei Minuten in den Wind fahren, im Ziel die Arme hochreißen und schon bekäme ich Ruhm, Geld und die Mädels fielen mir zu Füßen!”

Hartes Training

Du bist bereit, zu leiden und dich über deine Schmerzensgrenze hinaus zu fahren. Das ist aber nur ein Teil des Ganzen. Diese Bereitschaft kommt nur zu tragen, wenn du sie mit körperlichen Voraussetzungen untermauern kannst – und diese erreichst du nur auf einem Weg: Durch viele Stunden harten Trainings.

„‘Einfach fahren’ ist in Ordnung”, meint Voigt. „Aber das Leiden will trainiert werden. Wenn du also wissen möchtest, wie es sich anfühlt, wenn man sich auf dem Rad so richtig weh tut, damit du das im Rennen auch wiederholen kannst, musst du dir schon im Training Schmerzen zufügen.“

„Im Radsport kommt es darauf an, wie fit du bist – so einfach ist das. Als Fußballspieler muss man nicht nur fit sondern auch gleichzeitig ziemlich clever sein und gewisse Fähigkeiten mit ins Spiel einbringen. Als Fußballspieler muss man wissen, welchen Pass man zu wem spielen muss. Im Gegensatz dazu verlangt das Radfahren nicht viel. Die einzigen Fähigkeiten, die du als Radsportler mitbringen musst, ist die Fähigkeit, ein Rad zu fahren und leiden zu können. Beim Radsport geht es nur um dich.“

„Die einzigen Fähigkeiten, die du als Radsportler mitbringen musst, ist die Fähigkeit, ein Rad zu fahren und leiden zu können. Beim Radsport geht es nur um dich.“

„Wenn du aufhörst, in die Pedale zu treten, ist es mit dir zu Ende. Als Fußballspieler hast du ein ganzes Team um dich herum, wenn du müde wirst. Sie können deinen Rücken decken und für dich einspringen, wenn du dich ausruhen musst. Beim Radfahren kannst du dich nicht verstecken. Du musst hart trainieren. Hartes Training wird dich weiter bringen und deine Leistung verbessern.“

„Am Anfang reicht es vollkommen, wenn du für deine Ausfahrten eine gewisse Zeit ansetzt und du über eine Strecke eine bestimmte Geschwindigkeit fährst. So wirst du eine gewisse Fitness und Leistung erreichen. Aber dann kommt nichts mehr. Du stagnierst. Wenn du mehr Leistung bringen und weiterkommen möchtest, hilft nur eins: Du musst dich im Training quälen und das Training muss manchmal richtig weh tun.“

„Du musst Intervalle fahren – und zwar die Intervalle, die so richtig weh tun. Die Intervalle, die deine Schmerzengrenze ausreizen, das sind die, die dir am meisten bringen. Du wirst den Nutzen dieser Einheiten spüren.”

… und richtiges Training

„Bis zum Umfallen Kilometer schrubben kann wehtun und wird deine Leistung in gewisser Hinsicht verbessern. Richtig trainieren bedeutet aber nicht, dich bei jeder Ausfahrt Kilometer um Kilometer im roten Bereich zu fahren. Der Schlüssel zum effektiven Training liegt in der Qualität des Trainings. Durch Qualität im Training lernst du zu leiden, wenn es darauf ankommnt und erreichst deine erwünschten Erfolge. Im Training geht Qualität über Quantität“

Mit Etappensiegen bei der Tour de France und beim Giro d’Italia im Team CSC Pro – später Saxo Bank und jetzt als Tinkoff-Saxo bekannt – hatte Jens Voigt seine größten und nennenswerten Erfolge. Die letzten Jahre seiner Karriere verbrachte Jens Voigt im Rennstall von Trek Factory Racing.

Darum geht es im Radsport: Man muss leiden“

Von seinem ehemaligen Sportdirektor, Bjarne Riis, lernte Voigt „richtig zu trainieren und richtig hart zu trainieren“. Er lernte, einem vorgeschriebenen Traingsplan zu folgen, um das meiste aus der Zeit im Sattel zu holen und seine Leidensfähigkeit zu erhöhen.

„Fürs Radfahren muss man viel und hart trainieren – aber das Training ist wahrscheinlich weniger zeitintensiv, als du denkst, vor allem, wenn es um die Qualität des Trainings geht”, erklärt Voigt.

Nur durch hartes Training über der Schmerzgrenze konnte Jens Voigt geradezu unmenschliche Strapazen in seinen Rennen überstehen. Foto: Sirotti
Nur durch hartes Training über der Schmerzgrenze konnte Jens Voigt geradezu unmenschliche Strapazen in seinen Rennen überstehen. Foto: Sirotti

„Bjarne Riis legte mir nahe, dass es zwar sehr leicht sei, hart zu trainieren, aber sehr schwierig sei, hart und richtig zu trainieren. Wenn ich als Jungspund müde und kaputt vom Training wiederkam und alles wehtat, wusste ich, dass ich hart trainiert hatte.“

„Heutzutage geht vieles nach Zahlen: Du musst Kalorien zählen, Watt zählen und deinen Körper auf die richtige Art trainieren. Einfach nur trainieren, um seine Leistung zu halten, reicht nicht mehr aus.“

„Jetzt geht es darum, im Training anzuziehen, sich davon zu erholen, nur um die Trainingsreize noch weiter hochzustecken. Und so geht es immer weiter – du wirst besser, fitter und stärker. Darum geht es im Radsport: Man muss leiden.”

Vertraue dir selbst

Deine positive Einstellung hat dir geholfen, dich im Training zu quälen und das Leiden zu lernen. Das Ergebnis: Du bist fitter und stärker geworden. Was nun? Wie geht es jetzt weiter?

Auch hier hat Jens Voigt einen Rat: „Höre auf dein Bauchgefühl und verlasse dich auf deinen Instinkt – auch wenn das bedeutet, dass du manchmal gegen die Answeisungen des Sportdirektors fahren musst.“

„Sobald der Startschuss gefallen war, bin ich oft sehr instinktiv gefahren. Wenn ich mich gut fühlte, das Rad gut rollte und die Sonne schien, bin ich einfach gefahren.“

„Alle paar Jahre hatte ich einen Moment, in dem ich das Gefühl hatte, dass ich die Zukunft vorhersehen konnte. Ich würde genau sehen wie sich eine Situation entwickelt. Dann würde ich, zum Beispiel, zu mir sagen: ‘Wir biegen links ab und dann werde ich Tempo machen. Ich werde als erster oben am Berg ankommen und von da an werden die anderen mich nicht wieder einholen können.’“

„Hör auf dein Bauchgefühl und lasse dich von keinem Zweifel oder Zweifler zurückhalten”

„Ich hatte einige dieser Schlüsselmomente, aber leider sind sie nicht häufig vorgekommen. Zum Beispiel bei der Tour of Colorado 2012. Gleich nach dem Start bildete sich eine Ausreißergruppe. Ich guckte mir die Gruppe an und da waren so 25 von uns und ich wusste, dass das nicht klappen würde. Zu viele Fahrer, zu viele Teams, zu viele gegensätzliche Interessen, die in der Gruppe verfolgt wurden.“

„Es waren noch 145 km zum Ziel und ich dachte mir: ‚Ok, so wird sich dieses Ding abspielen: Ich werde angreifen und wenn ich mit einem Vorsprung von 1:30 als erster über den Berg komme, werden die mich nicht wieder einholen.'“

„So sah ich es vor mir und genau so führte ich den Plan aus: Ich griff an. Sofort war der Sportdirektor neben mir – der war jünger als ich – und ich konnte sehen, dass er von meiner Entscheidung nicht begeistert war. Aber ich fuhr einen Berg hoch, hatte also nicht die besten Voraussetzungen, ihm etwas zu erklären!”

„Er rief mir zu: ‘Jens, du weißt, es sind noch 145 km zum Ziel – das ist ein langer Weg und da sind fünf oder sechs Männer hinter dir her, vielleicht solltest du etwas warten.‘ Ich keuchte: ‘Nein Lars, ich habe einen Plan. Ich muss jetzt so fahren’. Und es spielte sich genau so ab wie ich es geplant hatte.”

„Auf den Punkt gebracht: Wenn du in einem Rennen fährst, also keine lange Trainingseinheit, und du fühlst dich gut und du spürst wie alles zusammenkommt, fordere dich selber heraus, hör auf dein Bauchgefühl und lasse dich von keinem Zweifel oder Zweifler zurückhalten”, sagt Voigt.

Die Musik macht’s!

„Stell dir vor, du setzt dich vom Peloton ab und du hörst einen schlechten Song auf Endlosschleife – Das ist mentale Folter“

„Du wirst schnell feststellen müssen, dass du, wenn du auf dich alleine gestellt bist, einen Ohrwurm haben wirst. Und meistens ist dieser Ohrwurm genau das Lied, das du im Teambus als letztes gehört hast. Nun stell dir vor, du setzt dich vom Peloton ab, um eine Einzeljagd aufzunehmen und du hörst einen schlechten Song auf Endlosschleife – oder einen Song, den du nicht leiden kannst – und es ist um dich geschehen: Das ist mentale Folter. Du bist nicht nur verloren, du hast verloren!”

Jetzt weißt du Bescheid: Wenn du willst, dass deine Beine aufhören zu jammern, dann sei wütend, vertraue dem Kannibalen, trainiere hart, trainiere richtig….und achte darauf, dass du in den letzten Momenten vor dem Rennen nur deine besten und liebsten Lieder hörst!

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